Seite 2 Inhaltsverzeichnis Seite 2 Fock, Gorch  -  Seefahrt ist not Fock, Gorch  -  Nach dem Sturm Frapan, Ilse  -  Zwischen Elbe und Alster Heine, Heinrich  -  Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski Jaedicke, Ernst  -  Vineta Knuedsen, J. M.  -  Die Seemarken an den Küsten der Königlich Dänischen Monarchie Liszt, Franz  -  Brief an Kreutzer Mühlenhoff, Karl  -  Der Teufel in der Elbe Seite 3 Nettelbeck, Joachim  -  Eine Lebensbeschreibung, von ihm selbst aufgezeichnet Rabener, Gottfried Wilhelm  -  Satiren Rast, Freiher Ferdinand von  -  Das Leben des Freiherrn Ferdinand von Rast Sachse, Joachim Christoph  -  Der deutsche Gil Blas Schröder, Bernhard  -  Erinnerungen 1927 - 1945 Seitel, Willy  -  Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen Seite 4 Trinius, August  -  Wenn die Sonne sinkt Turgenev, Ivan Sergejevich  -  Faust - Erzählung in neun Briefen Seite 5 Willkomm, Ernst  -  Reeder und Matrose ______________________________________________________________________________________ Gorch Fock: Seefahrt ist not - Letzter Stremel - Herbst ist es, windstarker, wolkengewaltiger Herbst, der die Blätter von den Bäumen gerissen und die kleinen Segelschiffe von der See gefegt hat. Hinter der Alten Liebe zu Cuxhaven (die nichts mit Liebe zu tun hat, sondern ihren Namen von der »Olive« bekommen hat, einem havarierten und abgeschlachteten Schiff, das zuerst den Anleger bildete) liegt die Austernflotte und macht sich zum Auslaufen klar. Da liegen die neun Kutter, die Dohrmann, der große Austernhändler, für den Winterfang angenommen hat. Auf der Besan haben sie seine Charterflagge wehen, die hansischen Farben mit den hamburgischen Türmen, die am Finkenwärder Deich die Todesflagge genannt wird. Denn der Austernfang auf hoher See ist die allergefährlichste Fischerei, weil sie in die stürmischen Monate fällt und weil die Austernbänke so weit draußen liegen, inmitten der Nordsee, meilenweit hinter Helgoland. Da ist keine Reede und kein Hafen zu erreichen, wenn das Wetterglas fällt. Alle Stürme müssen draußen abgeritten werden. Nur die neuesten, größten und seetüchtigsten Kutter können sich des Austernkurrens unterfangen. Nur die verwegensten und mutigsten Seefischer, die jungen und starken, können diese Fischerei betreiben. Aber auch sie würden sich nicht dazu hergeben, wenn sie nicht verdienen müßten und wenn sich die Austern nicht so gut lohnten. Die Zeiten sind schwer geworden, seitdem die Fischdampfer groß geworden sind. Winter und Sommer muß der Fischermann kurren, wenn er noch bestehen will. Die Notwendigkeit, die eiserne Not steht hinter ihm und jagt ihn in die Stürme hinein. Ein furchtbarer Ernst webt um die Masten der Fahrzeuge. Der Tod steht aufgerichtet an den Wanten und ist der heimliche Schiffer. ______________________________________________________________________________________ Gorch Fock: Nach dem Sturm  - Unser Ewer -  Es war der Ewer.  Ja, er war es und warm lief es mir über die Backen, als ich ihn wiedersah, so abgerupft und abgetakelt, ab-  gewrackt und haveriert, so kläglich und erbärmlich wiedersah, meinen Ewer, den ich die Nacht zuvor im  Traum noch groß und machtvoll in der unsagbaren Schönheit des Segelfahrzeuges mit allen braunen Lap-  pen auf der weiten Nordsee dümpeln und kreuzen gesehen hatte.  Entmastet und abgeschlachtet lag er im schmalen, seichten Schlickgraben, der sich sonst an den Fischer-  brücken von Altona und St. Pauli, an den Kajen von Geestemünde und Bremerhaven, an der Schlachte von  Bremen, an der Alten Liebe von Cuxhaven, auf der Reede von Helgoland und auf den Schallen von Finken-  wärder gesonnt und wohlgefühlt hatte.  Was da sonst noch herumliegen und umherstehen mochte, durften Bäume oder Schiffe sein. Ich bemerkte  sie nicht. Alles verging vor dem Ewer. Ich sah nur ihn und sein trauriges Schicksal.  ____________________ - Hans Otto -  Die Kugelbake vor Cuxhaven ist die große Nebelfrau der Elbmündung. Wer sie einmal bei Daak und Dunst  über die Watten starren gesehen hat, weiß das. Vordem stand dort bei Nebel und trüber Luft eine Fischers-  frau von Döse, ein armes, irres Weib, das ihren verschollenen Mann auf der See suchte; jahrelang hat sie  dort gestanden, alle alten Schiffer haben sie gesehen, – bis die riesige Bake sie ablöste.  ______________________________________________________________________________________ Ilse Frapan: Zwischen Elbe und Alster - Die Last - Es war drei Uhr, als der Schaffner: »Cuxhaven, Alles aussteigen,« in die Wagen hineinrief. Der Zug hielt am  Hafen, und der Wind war so stark, daß er das bloße Verlassen der Wagen zu einer Kraftanstrengung für die  Reisenden machte. Ueber Nacht war es noch ärger gewesen, – Ziegelscherben und zerbrochene Aeste la-  gen auf dem Pflaster, und Sand und Seegras war an den Treppen und in den Winkeln zusammengewirbelt  und aufgehäuft worden, um jeden Augenblick von Neuem zerwühlt und in die Luft gestreut zu werden. Der  Schornstein einer großen Fabrik war gegen Morgen heruntergestürzt und hatte fertige und halbfertige Kähne  der anstoßenden Werft zerschlagen. Die Straße dort war gesperrt, und große Theile des Schlots lagen noch  am Boden, während andere weggeräumt wurden. Klefecker sah zum ersten Male den öden Strand, den die  wilde Nordsee bespült. Der Hafen erschien ihm klein gegen den von Hamburg, aber in den weißgeflügelten  Segelschiffen zuckte der Sturm ganz anders und schien sie mit selbständigem Leben zu erfüllen, als wollten  sie mit ihm in die Weite flattern. Und nun erst links hinaus, am Fuß des vogelumkreischten, knarrenden, be-  benden Leuchtturms! War denn das Wasser? Diese schwarzen undurchsichtigen Berge und Thäler, die auf-  stiegen, als wollten sie das Land verschlucken und den Himmel einstoßen? Und nun ward ein Thal, wo eben  ein Berg war, und nun ward das Thal wieder zum Berge. Es war schwer, darauf hinzusehen und das Gleich-  gewicht zu behalten; es war schwer, sich zu erinnern, daß der Boden fest stand. Hinter Vorsprüngen der  Mauern und in den Thüren standen die Leute aus der Stadt und klammerten sich fest mit einer Hand, um mit  schwindelnden Augen durch das Glas hinauszusehen. Alle Stimmen waren verschlungen von der einen  übergewaltigen; alle Blicke hatten ein Ziel, alle Seelen ein Interesse; auf allen Gesichtern lag die Nähe eines  furchtbar lebendigen Ungeheuers, das nach Fraß brüllt. – Noch schwärzer als die dunklen Wellen stand das  Bollwerk der »Alten Liebe« da, wie das rostige Geripp eines Walfisches. Der Himmel wechselte wie das  Meer; bald war er lichter, bald dunkler und voll jenes trüben gelben Rauches, den der nordische Meergott  aus seiner Pfeife qualmt. Manchmal zerriß ein Kanonenschlag die Sturmorgelklänge, oder das Nebelhorn  heulte seine ängstliche Warnung über die Wellen.  Der Flüchtling mußte sich an den Hausmauern zurückfühlen in die Straßen; Mädchen und Frauen gingen  truppweise, um nicht über den Haufen geblasen zu werden, und warfen furchtsame Blicke nach den Däch-  ern. Als ihn der Sturm mit einem Matrosen zufällig in eine Ecke zusammentrieb, faßte er sich ein Herz zu der  Frage, ob heut ein Schiff auslaufe. Ja, aber nur eins, ein Kohlenschiff nach Hull; der Kapitän sei gerade in  die Wirthschaft dort gegangen, den solle er nur fragen.  Klefecker's Gemüth flog auf wie ein Vogel. Er trat in das bezeichnete Speisehaus, das in diesem Augenblik-  ke nur einen einzigen Gast beherbergte. Der Kapitän, ein untersetzter, fremd aussehender Mann, saß vor  einer dampfenden Kohlschüssel und schob von Zeit zu Zeit seinen mächtigen schwarzen Bart bei Seite,  damit er ihm nicht den Teller abfege. Klefecker fühlte plötzlich Hunger; er bestellte sich was Warmes und  brachte dann sein Anliegen vor.  Ja, der Kapitän konnte einen Passagier aufnehmen, zwei nicht so gut, aber es würde vielleicht auch gehen.  Er hatte schon gestern Nacht fort wollen, war aber des Wetters wegen immer noch hier; nun mußte man  heute Abend sehen ... eine feste Zeit konnte nicht ausgemacht werden, wenn es so beiblieb.  Das war wenig für Einen, unter dem der Boden brennt.  Die Wirthin brachte ihm seinen Kohl mit Hammelfleisch, wie er's bestellt hatte. Es roch appetitlich, aber die  Speisen würgten ihn. Der Kapitän stand auf und schob ihm beim Hinausgehen die Zeitungen zu. Gleich der  erste Blick fiel auf eine großgedruckte Anzeige, die eine halbe Seite einnahm:  »Zweitausend Mark Belohnung Demjenigen, welcher mir über den Verbleib meines, seit dem 28. Februar d.  J. verschwundenen Neffen, des Maschinisten Leopold Jäck, irgend welche zuverlässige Nachricht mitzu-  theilen hat.  Kaspar Dogel, Rentier. Pirna in Sachsen.«  Es flimmerte und flammte ihm vor den Augen; sein Gesicht wurde kalt. Da hörte er auf einmal hinter sich  eine laute Stimme dieselbe Anzeige herunterlesen. Hätte er nur den Kopf nicht gedreht. Aber es war, als  reiße ihm Einer das Gesicht herum, und seine Augen trafen in die des Hafenofficianten, der das Blatt in der  Hand hielt und eben der Wirthin die Bekanntmachung vorgelesen hatte. Er schlug mit der flachen Hand auf  die Zeitung: »Ja, der wird noch immer gesucht.«  »Er hat woll die Kasse mitgenommen, daß sie so achter ihm her sünd,« sagte die Wirthin schläfrig.  »Nee, dat is nich wohr,« rief eine hastige heisere Stimme, die jäh abbrach. Wer hatte ihn gefragt? Glühend  roth beugte sich Klefecker auf sein kaltgewordenes Essen; er rührte darin und konnte doch nichts schluk-  ken; der Officiant war horchend näher getreten.  »So, Sie kennen ihn persönlich?« fragte er obenhin, aber mit den Augen schien er viel mehr zu sagen.  »Wen?« »Den Verschwundenen, den Jäck?«  »Nee, den kenn ick nich;« der Ton war ziemlich gefaßt, aber die Stimme zitterte etwas.  Der Officiant nahm einen Stuhl ihm gegenüber und blickte ihm unverwandt ins Gesicht.  »Aber Sie behaupteten doch eben« –  »Ick hew blot seggt, wat ick lest hew,« – es ging schon leichter von der Zunge.  »Sie wollen woll nach drüben?« warf der Polizist so hin.  »Ja, ick denk so.«  »Von Hamburg ist da bessere Gelegenheit zu,« fuhr der Frager fort und zog die dicken Handschuhe aus, um  das Glas Grog bequemer anfassen zu können, das vor ihm dampfte. »Sie haben sich da einen großen Um-  weg gemacht.« Der röthliche steife Schnurrbart zuckte unmerklich, so daß die kurzen Spitzen schräg stan-  den. Die rothen Streifen über den Augen, Brauen waren nicht da, zogen sich spähend zusammen, sogar die  großen Ohrmuscheln reckten sich etwas, um die Antwort zu hören.  Aber es kam keine. Der Flüchtling schwieg im Gefühl seiner gänzlichen Hülflosigkeit, er maß die Entfernung  bis zur Thür wie ein gefangenes Wild und fühlte in die Tasche nach seinem Messer.  Der Officiant lehnte sich gemächlich zurück.  »Ihre Papiere sind jedenfalls in Ordnung? Wenn man auf solch' eine Reise geht –«  Klefecker ließ das Messer fahren und griff nach der Reisetasche; es war freilich Alles da; er hatte bei der  Erbschaftssache genug Laufereien deshalb gethan. Nur sein Arbeitsbuch war in der Fabrik zurückgeblieben.  Der Andere sah diese Bereitwilligkeit mit einer Enttäuschung, die er kaum verbarg.  »Lassen Sie nur; wir haben ja noch Zeit bis zur Abfahrt; Kapitän Hammer kommt heut' noch nicht hinaus,«  sagte er abwinkend; »na und Sie haben wohl auch keine Eile?« Das erwartete Zusammenschrecken war  nicht ausgeblieben. Der Officiant sah fast dankbar aus. »Am Ende haben Sie doch Eile hier fortzukom-  men?« sagte er wohlwollend.  Klefecker sprang auf, nahm seine Sachen zusammen und ging an den Schenktisch, um zu bezahlen. Er  hätte sich mit dem Messer auf den Polizisten stürzen müssen, wäre er noch eine Minute länger hier geblie-  ben. Und sollte denn Alles entdeckt, sollte er denn gefangen sein, nur nicht von dem, nur von dem nicht,  brannte es in ihm.  Auch der Quäler war aufgestanden.  »Wenn Sie schon gehen, möchte ich allerdings um Ihre Papiere bitten,« sagte er, lächelnd über seine eige-  ne Höflichkeit.  Da wurde heftig die Thür aufgerissen. Ein halbwüchsiger Bursche stürmte herein. »Mutter, 'n Boot draußen  vor der Alten Liebe; es kann alle Augenblick in Stücke gehn!«  Er ließ die Thür hinter sich offen und rannte hinaus, – der Officiant warf einen kurzen sicheren Blick auf Kle-  fecker, dann lief auch er fort; – Klefecker folgte; die Wirthin riß eine Wachstuchdecke von einem Tische,  wickelte sich hinein und watschelte den Männern nach. Die Leute liefen alle nach einer Richtung, dem  Leuchtthurm zu. Die Lampen brannten schon, aber ihr stilles rothes Licht schwamm nur in zersprengten  ohnmächtigen Funken auf den rollenden Bergen und Thälern. Der Sturm hatte etwas nachgelassen, so daß  man zur Noth stehen konnte, doch war das Meer noch immer so laut, daß man einander nicht hörte.  Sie standen in Reihen und Gruppen, hoben die Arme auf und suchten einander zuzuschreien, ohne Erfolg;  aber die verstörten Gesichter der alten Männer, die angstvollen Mienen der Frauen, und die Kinder, die  weinten und schrieen über den Tumult, den sie nicht begriffen, sprachen verständlich genug.  Klefecker drängte sich in einen dichten Haufen; Kapitän Hammer stand auch darin. Er reichte ihm das Glas  und führte seine Hand nach der Richtung.  Ja, da sah er es, gar nicht fern; wie ein weißes Papierblatt, bald hinauf-, bald herabgeschleudert, tanzte das  Boot, die Segel hoch, auf das alte Bollwerk los, – was hatte es nur dort verloren? Warum waren die Segel  nicht eingezogen?  »Dat mut Jan Stubbe sin,« hörte er Einen dem Andern ins Ohr schreien.  »Ja, dat is he!«  »Wenn dat man god geiht!«  »Dat geiht min Dag nich god.«  Ein lauter Schrei gellte vom Strande auf. Die wild am Bord hin- und herspringende Gestalt hatte nun endlich  das Segel halb gerefft, da entriß es der Sturm den erschlafften oder unkundigen Händen, griff in die losge-  bundene Leinwand und drehte das Boot in rasendem Wirbel um sich selbst.  »He is wedder duhn!« rief es.  »He is dat nich, dat is blot sin Jung; Jan is ja 'n grooten schieren Kerl, is Jan.«  »Ick segg Di, he is vull.«  »Und ick segg Di, Jan Stubbe is gor nich an Bord, segg ick Di.«  Ein neuer Schrei unterbrach den Streit; die Segelstange war zersplittert; das Segel hing halb im Wasser, das  Drehen des Bootes hörte auf; es neigte sich auf die Seite.  Ein Mann neben Klefecker rief:  »Wie möt em rinhalen, Jungens; wer will mit?«  »He is duhn!« rief es dagegen.  »'t is ja blot de Jung!« schrie ein Dritter.  Der alte Fischer, der zuerst gerufen hatte, begann wieder: »Un wenn 't ok Jan Stubbe sülwst is, sall de Mann  vor unse Ogen versupen?«  Das trockene braune Gesicht des Sprechers blickte ernsthaft und vertrauensvoll von Einem zum Andern.  »Sünd Ji nich ok all mal duhn west? Wer kann hier seggen: ick nich?« –  Die hellen muthigen Augen trafen Klefecker, die dringliche mahnende Stimme fuhr ihm durchs Herz. Da war  es ihm, als höbe sich der furchtbare Sack von seiner Schulter. Es ging wie ein Zurechtrücken durch seinen  Körper. Er warf die Tasche, die er noch immer trug, dem Nächststehenden zu.  »Ick!« schrie er überlaut.  Weiter nichts, aber sie verstanden es Alle. Im Handumdrehen waren sie vollzählig, vier Mann, lauter Fischer,  wie der erste, starke Männer mit gefaßten Gesichtern. Wie er als fünfter mit ihnen die Landungsbrücke ent-  lang lief, ins Boot sprang, sein Ruder ergriff und mit ganzer Armkraft in das Wasser stieß, das zäh' wie Blei  sich ihm entgegenstemmte, ging ein Schein über sein Gesicht, als lebe er von Neuem auf.  »Man irrt sich doch manchmal,« sagte der Hafenofficiant zu der Wirthin, »ich hatte gedacht – – und nu sehn  Sie, wie der Kerl zieht.«  Es war ein saures Stück Arbeit, dies Kämpfen gegen Strom und Sturm in dem schwachen Boot. Mit schmer-  zenden Armen und triefenden Gesichtern, wortlos, die Augen hinausgerichtet, dem bedrängten, jetzt vor  ihnen verdeckten Fischerboote zu, pflügten sich die Ruderer vorwärts. Die genaue Kenntniß des Wassers  leitete sie. Und mitten in diesem Kampf, in dieser Anspannung aller Kräfte erblickte der Flüchtende plötzlich  wie in einem Rahmen eine Gestalt, die auf ihn zugeschritten kam. Fern war sie, ganz fern; dennoch erkann-  te er das blonde Haar und die kleinen Schritte und sah ihre Röcke flattern im Sturm. Sie ging langsam, im-  mer langsamer, einen öden Weg. Ihre thränenrothen Augen hefteten sich in seine, nicht vorwurfsvoll, aber  so hülflos, so verzweifelt. Er konnte den Blick nicht ertragen, er hob das Ruder zur Abwehr. Die Gestalt zer-  rann, als ein Schrei, messerscharf, den Lärm des Sturmes durchschnitt. Das Boot war erreicht, sie waren  zur Stelle. Es füllte sich zusehends mit Wasser, an der zweiten Segelstange hing der halbtodte Junge und  schrie. Keine Möglichkeit, ihn dort weg zu bringen, durch Zeichen oder Zurufe; er mußte geholt werden. Sie  brachten ihre Jolle endlich Seite an Seite mit dem andern Boot. Der alte Fischer stieg hinüber, riß die ver-  krampften Hände los und hielt den Knaben an sich. Klefecker ließ den Bord des andern Schiffes fahren, an  dem er sich aufgerichtet hatte und stand mit gespreizten Beinen, ohne Wank, wie wüthend ihm auch das  zerrissene Segel ins Gesicht peitschte, bis er den Geretteten aufgefangen und auf den Boden niedergelegt  hatte. Einer der Fischer mit einem großen Schiffsmesser wollte über ihn hinwegsteigen, – Klefecker verstand  seine Absicht, nahm ihm das Messer aus der Hand und bedeutete, daß er selbst hinüberklettern und die  zweite Segelstange kappen wolle; das Fahrzeug war dann vielleicht noch zu retten. Auch der Alte war noch  droben. Mit aller Wucht stieß Klefecker das Messer ein und sprang dann rückwärts. Aber die stürzende  Stange mit der herumfahrenden Leinwand hatte ihn dennoch erreicht. Sie riß ihn über Bord und weit hinaus.  Der Alte warf ihm auf der Stelle ein Seil nach. Er tauchte in einiger Entfernung wieder auf, die Hände um den  Segelschaft gefaltet; das Tau glitt darüber hin und her; er griff nicht danach. Sie riefen und schrieen. Er löste  die eine Hand und zeigte auf sein blutüberströmtes, aber fast fröhliches Gesicht. Dann ließ er auch die an-  dere Hand los und versank in die Tiefe, die ihm die grause Last von den Schultern gewaschen hatte  ______________________________________________________________________________________ Heinrich Heine: Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski  Den zweiten Tag gelangten wir nach Kuxhaven, welches eine hamburgische Kolonie ist. Die Einwohner sind  Untertanen der Republik und haben es sehr gut. Wenn sie im Winter frieren, werden ihnen aus Hamburg  wollene Decken geschickt, und in allzu heißen Sommertagen schickt man ihnen Limonade.  Als Prokonsul residiert ein hoch- und wohlweiser Senator. Er hat jährlich ein Einkommen von 20.000 Mark  und regiert über 5000 Seelen. Es ist dort ein Seebad, welches unter anderen Seebädern den Vorteil bietet,  dass es zu gleicher Zeit Elbbad ist. Ein großer Damm, worauf man spazierengehen kann, führt nach Ritze-  büttel, welches ebenfalls zu Kuxhaven gehört. Das Wort kommt aus dem Phönizischen; die Worte »Ritze«  und »Büttel« heißen auf phönizisch: Mündung der Elbe.  1831 ______________________________________________________________________________________ Ernst Jaedicke: Vineta An der Nordküste der Insel Usedom soll vor vielen, vielen Jahren eine große, reiche Handelsstadt mit Na-  men Vineta oder Venedig gelegen haben. Gewöhnlich wird erzählt, sie habe seewärts vor dem Streckelberg,  und zwar an der Stelle gelegen, wo sich jetzt das sogenannte Vinetariff befindet. Die Stadt Vineta soll zur  Zeit ihrer Blüte so reich und schön gewesen sein, daß sie im ganzen Küstengebiet der Ost- und Nordsee  nicht ihresgleichen hatte. Die Häuser, in welchen die Leute wohnten, glichen kleinen Palästen: sie waren  aus Marmor erbaut und mit vergoldeten Zinnen geschmückt. In dem Hafen befanden sich Hunderte von  Schiffen, welche bis nach Archangel und Konstantinopel fuhren. Auch weilten viele fremde Kaufleute in der  Stadt, um hier Waren zu kaufen oder zu verkaufen. Aber je reicher und wohlhabender die Einwohner von  Vineta wurden, desto mehr fanden Stolz, Übermut, Gottlosigkeit und allerlei unheiliges Wesen bei ihnen  Eingang. Zu den Mahlzeiten nahmen sie nur die auserlesensten Speisen, und den Wein tranken sie aus  silbernen und goldenen Gefäßen, wie sie selbst in den Gotteshäusern nicht schöner und prächtiger zu fin-  den waren. Die Hufe der Pferde waren statt mit Eisen vielmehr mit Silber oder gar mit Gold beschlagen. Das  Brot, die herrliche Gottesgabe, mißbrauchten die Frauen in schamloser Weise, indem sie die kleinen Kinder  damit reinigten. Und wie die Großen, so trieben es auch die Kleinen. Die Kügelchen, mit welchen die Kinder  auf der Straße spielten, bestanden aus reinem Silber, und wenn sie über eine Wasserfläche »Butterbrot wer-  fen« wollten, so benutzten sie dazu nichts anderes als blanke Taler.  Aber solcher Übermut sollte nicht ungestraft bleiben. In einer stürmischen Novembernacht brach das göttli-  che Strafgericht unvermutet über die Stadt und ihre gottlosen Bewohner herein: eine furchtbare Sturmflut  wälzte ihre Wogen über die Stadt und über das Land hinweg und begrub alle Häuser und alle Menschen  unter ihren Fluten; kein einziger Bewohner von Vineta entrann dem Verderben. So wurde die reiche Stadt  mit all ihrer Pracht und Herrlichkeit in wenigen Stunden vernichtet.  Die Trümmer der ehemaligen Stadt ruhen noch heutigen Tages auf dem Grunde des Meeres, und wenn man  bei stillem, ruhigem Wetter und bei klarem Wasser über die Stätte der untergegangenen Stadt hinwegfährt,  so kann man die Fundamente der Häuser, die Straßenzüge und noch viele andere Reste der einstigen Stadt  in der Tiefe wahrnehmen. Einmal im Jahre wird die auf dem Meeresgrunde ruhende Stadt auch über der  Oberfläche des Wassers sichtbar, indem sie sich wie ein Schatten- oder Nebelbild mit unbestimmten Umris-  sen zeigt; die Leute in den umliegenden Dörfern sagen: Vineta wafelt! An welchem Tage diese Erscheinung  zu sehen ist, wird verschieden angegeben: Die einen sagen, es wäre am Johannistage; die andern meinen,  Vineta zeige sich an demselben Jahrestage, an welchem es einst untergegangen sei, und das sei eben der-  selbe Tag, an welchem auch Cuxhaven durch eine Sturmflut zerstört worden sei.  Am Johannistage, mittags zwischen 11 und 12 Uhr, sollen auch die Glocken der versunkenen Stadt aus der  Tiefe des Meeres heraufklingen, und manch einer will ihre Klänge schon vernommen haben. Das ist aller-  dings nicht ganz ungefährlich. Denn man sagt, daß der, der die Glocken von Vineta gehört hat, mit unwider-  stehlicher Gewalt von der Meerestiefe angelockt wird, bis er selbst da unten ruht.  Deutsche Sagen   ______________________________________________________________________________________ J. M. Knuedsen  -  Die Seemarken an den Küsten der Königlich Dänischen Monarchie  Die Elbe. Die Elbe wird im Allgemeinen von Helgoland aus gesucht, einerlei, ob man westen- oder osten um diese  Insel passirt, da dieselbe, welche hoch, und wohin das Fahrwasser rein ist, eine gute Richtschnur für das  Suchen der Elbe gewährt.  Auf Helgoland befindet sich ein festes Leuchtfeuer, das nach allen Richtungen hin leuchtet. Es steht 251  Fuß über dem Meere und wird in sichtbarer Witterung 4-5 Meilen weit gesehen.  Bei dem Suchen der Elbe hat man zu beachten, daß die Fluth in östlicher und die Ebbe in westlicher Rich-  tung geht. Der Cours von Helgoland bis zur äußersten, vor der Elbe liegenden, Tonne (die roth gemalt und  auf ungefähr 10´ Faden Wasser liegt) ist S. O. z. S., und muß man mit schralem Winde den Cours darnach  richten, je nachdem man mit Ebbe oder Fluth segelt. In disigem und nebeligem Wetter, wenn man nicht ris-  kiren kann, auf die Elbe hineinzusetzen, darf man sich den Gründen auf nicht weniger als 10-12 Faden Was-  ser nähern. Die Marke, um das äußerste Feuerschiff vor der Elbmündung zu suchen, ist: Der höchste  Leuchtthurm auf Neuwerk und die Baake auf dem Schaarhörner Sand in einer Linie. In dieser Marke und mit  dem Cours S. O. z. O. trifft man das Feuerschiff. Dasselbe hat Luggertakelage und am Tage weht vom  Großmast eine rothe Flagge; des Nachts führt es ein Leuchtfeuer, das sich 39 Fuß über dem Wasserspiegel  befindet und in einer Entfernung von 2 ½-3 Meilen gesehen werden kann. Bei nebeliger Witterung wird am  Bord dieses Schiffes mit einer Glocke geläutet, und in dem Falle, daß ein Schiff gesehen worden und in  trüber Witterung wieder außer Sicht gekommen ist, werden auf dem Feuerschiffe Kanonenschüsse gelöst.  Dieses Schiff liegt das ganze Jahr hindurch auf seiner Station, wenn es durch Eisgang oder Unglücksfälle  nicht genöthigt wird, dieselbe zu verlassen. In vorhin erwähnter Marke und Cours trifft man die äußerste  Tonne, die ¼ Meile binnen vor dem Feuerschiffe liegen soll, und in der Nähe dieser Tonne hat die Lootsga-  liote ihren Platz, wenn sie sich hier halten kann. Die Lootsgaliote hat 2 Masten, und von dem hintersten, an  welchem eine hohe Stange ist, weht die Flagge. In stürmischer Witterung geht die Galiote weiter aufwärts in  das Fahrwasser nach Neuwerk. Von der äußersten rothen Tonne steuert man O. S. O. und S. O. z. O. unge-  fähr 1 Meile, bis der größte Leuchtthurm und die nördliche hohe Baake auf Neuwerk in eine Linie kommen.  Auf Neuwerk befinden sich 2 Leuchtthürme; das südlichste Feuer brennt 117 Fuß, und das nördlichste 58  Fuß über dem Wasserspiegel; das erstgenannte Feuer sieht man in einer Entfernung von 3 ½ Meilen. Auf  Neuwerk befinden sich auch 2 Baaken, wovon die höchste auf der N. W. Seite, und die kleinere auf der Ost-  seite steht. In der Nähe der letztgenannten Marke liegt ein zweites Feuerschiff, nämlich zwischen den wei-  ßen Tonnen Nr. 3 und 4, auf ungefähr 11 Faden Wasser. Diesen Platz verläßt es nur, wenn es durch Eis-  gang dazu genöthigt wird. Dieses Feuerschiff ist wie eine Galiote getakelt und hat am Tage eine blau und  weiß, horizontal gestreifte Flagge vom Großtopp wehen. Des Nachts hat es 2 Lampenfeuer am Großmast  aufgezogen, wovon das oberste 34 Fuß, und das unterste 17 Fuß über dem Wasserspiegel steht. Diese  Feuer sind bei klarer Witterung in einer Entfernung von 2-2½ Meilen sichtbar.  Von der äußersten rothen Tonne sind längs dem Fahrwasser nach Cuxhafen hinein an beiden Seiten Ton-  nen ausgelegt, wovon die an der Südseite, welche man bei der Einsegelung am Steuerbord behält, schwarz  gemalt und mit Buchstaben versehen sind. Die an der Nordseite liegenden Tonnen sind dagegen weiß ge-  malt und über dem Wasser spitz, sowie mit Zahlen bezeichnet, die nach der Lage der Tonnen in den Lauf  hinein steigen. Auf der Strecke von der See nach Cuxhafen hinein sollen die Tonnen das ganze Jahr hin-  durch ausliegen, dagegen werden die Tonnen, welche von hier längs der Elbe hinauf liegen, im Winter weg-  genommen und statt ihrer Eisbaaken ausgelegt.  Die Course, in welchen man von dem äußersten Feuerschiffe nach Curhafen hinauf segelt, sind folgende:  Vom Feuerschiffe nach der ersten weißen Tonne S. O. z. O., ungefähr 1 Meile. Von dort nach der Flügel-  tonne (schwarz mit Flügel) S. O. z. S., ungefähr 1 Meile. Von hier nach der schwarzen Tonne L. S. O. z. O.,  ungefähr 1 ½ Meile, und von dieser nach Cuxhafen Süd, eine kleine Meile.  Bei Cuxhafen befindet sich ein festes Leuchtfeuer, das 78 Fuß über dem Wasserspiegel steht und in einer  Entfernung von 3 Meilen gesehen wird. Außerdem ist auf der nordöstlichen Landspitze von Cuxhafen eine  hohe Baake N. z. W. vom Leuchtthurm errichtet. - Hier ist ein Hafen mit einer Tiefe von 20-14 Fuß bei Hoch-  wasser. Der Ankerplatz befindet sich auf dem Strom entlang, außerhalb des Hafens.  Da jegliches Fahrzeug, das die Elbe sucht, bei segelbarem Wetter sicher darauf rechnen kann, von der  Lootsgaliote oder von Cuxhafen einen Lootsen zu erhalten, so werden selbige auch gewiß von den meisten,  mit diesem Fahrwasser nicht bekannten Seeleuten, die hier hinein suchen, in Anspruch genommen.  Auf der Strecke von Cuxhafen längs der Elbe hinauf bis Blankenese vorbei liegen an beiden Seiten des  Fahrwassers Tonnen; alle schwarzen an der Südseite und alle weißen an der Nordseite. Sie sind alle, so-  wohl die schwarzen wie die weißen, mit Zahlen versehen, die längs der Elbe hinauf nach und nach niedriger  werden.  An der Südseite des Fahrwassers, ungefähr 8 ½ Meilen von Cuxhafen, liegt draußen vor Stade das Stader  Zollschiff. - Die Entfernung von dem äußersten Feuerschiffe nach Altona hinauf beträgt ungefähr 16 ½ Mei-  len.  Ein Handbuch für Seefahrende, Kopenhagen 1861  ______________________________________________________________________________________ Franz Liszt: Brief an Kreutzer Von Kopenhagen kehrte Liszt über Hamburg nach Deutschland zurück. Über die Rückfahrt berichtete er in  einem Brief an L. Kreutzer:  Ein Sturm wirft mich nach Cuxhaven. Vielleicht bemerkten Sie auf geographischen Detai-Karten einen  schwarzen Punkt, der diesen Namen trägt; begreifen Sie aber auch dabei, was es heißt während zwölf gan-  zer Stunden hier festgehalten zu sein? So etwas ist, um wild oder toll zu werden! Dort habe ich gelernt das  Opfer der Iphigenia zu verstehen.  Am Tage geht es noch. Man erledigt vernachlässigte Korrespondenzen, erinnert sich an Menschen, an die  man während dreier Jahre nicht geschrieben, man macht seinen Freunden glauben, man bessere sich und  sei im Begriff, ein regelrechter Briefschreiber zu werden. Aber des Abends! Abends in Cuxhaven!  Glücklicherweise giebt es eine Vorsehung, welche die Unglücklichen nie ganz verläßt. Wir hörten zufällig,  daß eine Komödiantentruppe von dem unseligsten der Sterne dahin verschlagen und nicht aus Mangel an  gutem Willen, aber aus Mangel an Zuschauern sich mit Nichtsthun beschäftige. Sofort veranstalteten wir  eine Subskription. Alle Passagiere des `Beurs´ zeichneten, mehrere Einwohner, verführt vom schlechten  Beispiel, gestatteten sich diese thörichte Depense. Man fegt die Dielen, das Orchester nimmt Platz, den  Musikanten spendet man Wein, die Bässe brummen im besten Humor, die Altos söhnen sich mit dem Leben  aus, die große Trommel erhebt sich zu ungewohnter Energie. Die Lichter werden angesteckt, wir zünden  unsere Cigarren an. Einige junge Frauen, von der Neugierde gelockt und von der Konvenienz - dieser  Mutter aller Langeweile - zurückgehalten, kommen, gehen, kommen wieder, um endlich, nachdem sie sich in  einer Anzahl, die ihnen gegenseitig eine genügende Sicherheit zu verbürgen schien, zusammen gefunden  hatten, zu bleiben.  Das Stück beginnt; es ist: `Der Vater der Debütantin.´ Vernet fehlt, aber die Schauspieler sind zufrieden und  lachen: weil sie lachen, lacht das Publikum. Jeder sieht seinen Nachbarn an, als wollte er sagen: "Ist es  nicht närrisch, daß wir hier sind?"  Der Vaudeville ist zu Ende - niemand geht. Wohin könnte man auch in Cuxhaven um halb neun Uhr Abends  hingehen? Aber das Orchester kennt Walzer von Strauß. Ausgezeichnete Idee! -: man tanze!  "Tanzen! Wie? in einem öffentlichen Theater? mit Fremden, Unbekannten?"  "Warum nicht, meine Damen? Ich bin Ungar, heiße Franz Liszt, spiele passabel Klavier, bin nicht weniger  gut erzogen als ein Anderer, und verbürge mich für meine Gefährten und für mich selbst, was soviel sagt,  wie - fast nichts."  Auf diese Rede war nichts zu erwidern. Sogleich machte das Orchester Leben; der Rhythmus wirkte mehr  und mehr, er reißt die Widerstrebenden mit sich fort und erschüttert die festesten Grundsätze. Und bald - oh  großer Strauß! - senken alle hübschen Cuxhavenerinnen ihre blonden Köpfe gegen die Schulter der Schiff-  brüchigen und überlassen deren nervigten Armen ihre schlanken Taillen. Noch eine Stunde, nur eine Stun-  de! und alle unsere `Don Juan´ hatten ihre »Haidee« gefunden! Warum legte der Sturm sich so schnell?  Warum wehte kein Nordwind mehr?  1841 ______________________________________________________________________________________ Karl Müllenhoff: Der Teufel in der Elbe  Ein Kapitän ging traurig an einem Hafen auf und nieder, weil er gar nicht wußte, wie er ein Schiff bekommen  sollte. Da trat ein feiner Herr zu ihm, der aber niemand anders als der Teufel selber war, und versprach ihm  ein Schiff: er solle es sogar für immer behalten, wenn er ihm, dem Teufel, bei seiner Rückkehr in die Elbe  etwas zu tun geben könne, das ihm auszurichten unmöglich wäre. Der Kapitän nahm in seiner Not das Aner-  bieten an und er erhielt ein Schiff; es war ganz leer, aber neu und gut; er bemannte es, fand Ladung und  machte die vorteilhafteste und schnellste Reise. Als er aber wieder vor die Elbe kam, gedachte er seines  Versprechens und voller Sorgen ging er auf dem Verdeck hin und her. Sein Sohn, der Steuermann war,  bemerkte seine Verstimmung und drang mit Fragen in ihn. Da bekannte der Kapitän endlich, wie es zwi-  schen ihm und dem Teufel stünde. Aber der Sohn sagte: »Wenn's weiter nichts ist, so geh nur ruhig in den  Raum und laß mich nur machen.« Der Vater ging hinunter; der Junge saß am Steuer, die Flut kam mit Macht  herein, ein scharfer Wind war mit: da ließ er alle Segel aufsetzen und wie ein Blitz flog das Schiff in die Elbe.  Kuxhaven gegenüber kam der Teufel mit einem Male an Bord und forderte, man möchte ihm nun seine Auf-  gabe stellen, oder er würde mit dem ganzen Schiff davon gehen. Da befahl der Junge den Matrosen, das  große Anker herunter zu lassen, und wie nun das große dicke Tau von der Welle flog, mußte der Teufel zu-  greifen und sollte das Schiff im Laufe aufhalten. Da war aber die Fahrt so groß und der Teufel hielt das Tau  so fest, daß er durch das Loch, darin das Tau ging, hindurch gezogen ward und weit hinaus ins Wasser flog.  – Seit der Zeit hat er für immer darin bleiben müssen. Bei stürmischem Wetter, wenn Leute von einem Ufer  zum andern wollen und niemand sie übersetzen will, dürfen sie nur rufen; dann muß der Teufel kommen und  sie über den meilenbreiten Strom hinübertragen; er darf kein Fährgeld nehmen. Man sagt, daß er viel zu tun  und immer hin und her zu waten hat. Der Amtmann von Zewen im Hannöverschen hat vor zweihundert Jahr-  en einen Kontrakt mit ihm gemacht.  Mündlich aus Marne in Dithmarschen.  Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845  ______________________________________________________________________________________ Seite 3  .
Zurück Nach oben Seite 1